Ein Leben danach

Zum Abschluss meiner Erzählung möchte ich dir noch berichten, wie es mir aktuell geht.

Ein Zeuge Jehovas wird sich das nur schwer vorstellen können, aber meine Frau und ich sind glücklich. Bisher ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht darüber gesprochen haben, wie viel Glück wir hatten, dass wir unser Leben und vor allem das Leben unserer Kinder retten konnten. Jemand, der selbst nie ein Teil solch einer Bewegung war, kann sich nur schwer vorstellen, wie sehr man in seinen Gedanken gefangen ist. Und wie unheimlich schwer der Schritt raus aus dieser Sklaverei des Denkens ist. Wir hatten Glück, dass unsere Kinder noch in einem Alter sind, in dem sie sich emotional nicht zu sehr an diese Organisation gebunden haben. Es gibt viele Berichte von Eltern, die den Absprung erst geschafft haben, als ihre Kinder bereits Jugendliche und selbst getaufte Zeugen Jehovas waren. Sie sind häufig mit Schuldgefühlen belastet, da sie den Glauben an die WTG ihren Kleinen selbst indoktriniert haben. Ihre Kinder blieben in der Organisation und meiden seither den Kontakt zu ihren Eltern.

Als unsere Entscheidung feststand, die Organisation zu verlassen, wurden in der Kita unserer Söhne gerade Ostereier bemalt. Das haben wir die Jahre zuvor untersagt (Zeugen Jehovas feiern keine Feste wie Ostern, Weihnachten oder Geburtstage). Unser Sohn sollte dafür Steine bemalen. Wir fragten ihn beim Essen, ob es ihm Spaß machen würde, mit seinen Freunden Eier anzumalen. Er wurde rot im Gesicht, schaute verlegen runter und sagte:
„Nein, das macht mir keinen Spaß!“. Meine Frau und ich sahen uns an und hatten Tränen in den Augen, weil er nur das wiedergab, was wir von ihm hören wollten. Er antwortete nicht so, wie er wirklich empfand.

Wenn bei einem Fünfjährigen bereits solch ein Prozess stattgefunden hat, dann kann man sich vorstellen, wie tief verwurzelt diese Überzeugung bei einem Jugendlichen sein muss.

Einige Wochen nach unserem Schritt war meine Frau zum Entwicklungsgespräch unseres älteren Sohnes in der Kita eingeladen. Den Erziehern sind Veränderungen bei unserem Sohn aufgefallen. Er war deutlich offener, integrierte sich mehr in die Gruppe und in die Aktivitäten der Kita. Auch wir haben das Gefühl, dass er sich schon nach kurzer Zeit positiv verändert hat. Uns gegenüber ist er ebenfalls viel offener, er wirkt gelöster und befreit. Das mag einfach ein rein subjektives Gefühl sein. Vielleicht reden wir uns das auch nur ein. Aber ich denke, dass Kinder und Jugendliche, die mit einem Mal nicht mehr den Konfrontationen durch das Einhalten der WTG-Richtlinien ausgesetzt sind, viel freier in ihrem Umfeld agieren können.

Seinen ersten „echten“ Geburtstag hat unser Großer mit seinen Freunden aus der Kita und der Nachbarschaft sehr genossen. Auch unser erstes Osterfest haben wir gemeinsam mit der Familie meiner Frau gefeiert.

Für mich ist dies alles noch recht ungewohnt. Ich kann mich nur vage an die Zeit erinnern, wie ich mit meinen Eltern diese Feste gefeiert habe. Jetzt, mit 32 Jahren, muss ich mich tatsächlich erst einmal dran gewöhnen.

Für meine Kinder freue ich mich riesig, dass sie frei im Denken aufwachsen werden. Dass sie selbst entscheiden dürfen, woran sie glauben, ohne dass es Konsequenzen hat. Egal zu welchem Geschlecht sie sich hingezogen fühlen, ich kann erleben, wie sie mit ihrem Partner glücklich werden. Sie dürfen mit jedem Menschen, den sie in ihrem Leben treffen und mögen, engen Umgang haben. Sie dürfen sämtliche Feste feiern. Sie werden bald ihren ersten Weihnachtsbaum schmücken. Für dich klingt das wahrscheinlich wie das normale Leben.
Für mich ist es ein völlig neues Leben.

Doch wie ich bereits erwähnte, gibt es auch Schattenseiten. Wir haben an einem einzigen Tag alle unsere Freunde verloren sowie meine Mutter und meinen Stiefvater. Der „beste Freund“, die „beste Freundin“ gibt es erstmal nicht mehr. Freundschaften, die sich über Jahre aufgebaut haben, existieren mit einem Mal nicht mehr. Und wenn man Freunden auf der Straße begegnet, werden sie einen Gruß wahrscheinlich nicht erwidern.

Während wir damals Schritte unternommen haben, um die Organisation zu verlassen, habe ich immer wieder gegenüber meiner Frau betont, wie schwer dieser Prozess werden wird. Ich hatte große Angst davor, dass wir in ein Loch fallen würden und der Verlust unserer Freunde uns psychisch enorm belasten würde.

Wie schwer dieser Prozess wird, hängt meiner Meinung nach maßgeblich davon ab, ob man Menschen um sich herum hat, die einen auffangen. In der Regel gibt es da niemanden oder nur sehr wenige. Man wird als Zeuge Jehovas darauf getrimmt, den Umgang mit den Menschen in der „Welt“ auf ein Minimum zurückzuschrauben. Die familiären Verzweigungen und Kontakte im Leben vieler unserer Freunde sind so fest mit der WTG verwurzelt, dass ich mir einen Austritt ihrerseits kaum vorstellen kann. Der eine oder andere müsste zusätzlich sogar sein berufliches Leben auf neue Füße stellen.

Meine Frau und ich waren in dieser Hinsicht eher liberal. Wir hatten Kontakt zu Menschen, die keine Zeugen Jehovas waren, mit denen wir auch die Freizeit verbrachten. Es gab natürlich eine gewisse Grenze, die wir nicht überschritten. Daher waren es nie wirklich enge Freundschaften, die sich aufbauen konnten. Diese Grenzen haben sich nun aufgelöst und behindern uns nicht mehr dabei, Menschen an uns heran zu lassen. Dabei merkt man, dass die „Welt“, vor der man immer gewarnt wurde, doch gar nicht so schlecht ist. Es gibt so viele wunderbare Menschen, oder wie es ein ehemaliger Assistent der „Leitenden Körperschaft“ (mittlerweile kein Zeuge Jehovas mehr) ausdrückte: „Es gibt eine wunderbare Vielfalt da ‚draußen'“.

Wir haben das große Glück, dass wir eine Familie haben, die für uns da ist. Meine Schwiegereltern sowie mein Schwager und dessen Frau waren eine große Hilfe für den Neustart. Wir haben auch Freunde gefunden, mit denen wir damals als Zeugen Jehovas die Bibel studiert hatten. Heute blicken wir gemeinsam auf die Zeit zurück und sind froh, dass sie sich damals nicht dieser Organisation angeschlossen haben.

Einige Wochen nach unserem Austritt hatte ich eine interessante Begegnung mit einem Freund aus dem Fitnessstudio. Wir kannten uns bereits seit zwei Jahren. Ab und zu fragte er mich, ob wir nicht mal gemeinsam etwas unternehmen könnten. Ich hielt ihn aber immer auf Distanz. Ein einziges Mal war er bei sportlichen Aktivitäten unter Zeugen Jehovas dabei, zu denen ich ihn eingeladen hatte. Meinen Freunden hatte ich damals versichert, dass er ganz nett sei und keine „Gefahr“ darstelle.

Als ich ihn also auf der Straße traf, erklärte ich ihm meine aktuelle Situation. Ich erzählte ihm, dass ich ein Zeuge Jehovas war und nun meine Freunde, die er kennengelernt hatte, verloren habe. Er unterbrach mich und meinte, er wisse, was ich da durch mache. Er ist selbst 18 Jahre bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen und hat dann die Organisation verlassen. Seine Eltern sind bis heute noch dabei. Wir sprachen darüber, was ihn damals dazu bewegt hatte, diesen Schritt zu unternehmen. Ich erkannte vieles von seinen Überlegungen bei mir wieder. Er verstand nun auch, warum ich immer so distanziert gewesen war. Diese Begegnung, dieser Moment, hat mir sehr viel gegeben.

Ich habe auch Kontakt zu einem ehemaligen Assistenten der „Leitenden Körperschaft“ aufgenommen. Er selbst hat elf Jahre (1995 – 2006) in der Hauptzentrale in Brooklyn verbracht und war davon neun Jahre lang der persönliche Begleiter von Mitgliedern des Leitungsgremiums (Karl Klein und Lyman Swingle). Neben den ernüchternen Informationen über die „Leitende Körperschaft“ ist seine persönliche Geschichte wirklich herzergreifend. Er selbst hat seine Gefühle jahrelang unterdrückt und gedacht, sein Aufenthalt in der Hauptzentrale würde ihm helfen, seine homosexuellen Neigungen zu „bekämpfen“. Als er später aus dem Albtraum erwachte, kam er zu folgendem Schluss:

Zum ersten Mal dachte ich, dass dieser intelligente Schöpfer nicht wollte, dass ich aufgrund meiner Veranlagung zugrunde gehe. […] Es ist ein schwerwiegendes Erlebnis, aufzuwachen und all das durchzustehen, was dann kommt, wenn man merkt, dass das eigene Leben eine Lüge war.

Mit 30 Jahren hat er angefangen zu leben. Heute wohnt er gemeinsam mit seinem Ehemann in der Nähe von Manhattan. Er und sein Mann haben mittlerweile Zwillinge adoptiert und sind heute eine glückliche Familie. Er hat mir und meiner Familie seine Unterstützung angeboten, wenn es mal schwer wird. Ein Gedanke, den er mir persönlich mitgab, hat mich besonders berührt:

Vieles von dem, was wir in dieser Religion gelernt haben, ist zutiefst voreingenommen und gefärbt, und wir müssen diese Weltanschauung zunächst verlernen, um dann zu lernen, als Einzelpersonen gesund voranzukommen. Ich wünsche dir alles Gute auf deiner Reise.

Aufzuwachen und zu verstehen, dass bis hierher alles eine Lüge war, ist ein Prozess, den jeder Zeuge Jehovas, der aus seinem Gefängnis ausbricht, erst einmal durchmachen muss. Die Ideologie, der man sein Leben gewidmet hat, ist mit einem Mal verschwunden. Man hat daran geglaubt, dass Gott irgendwann auf der Erde eingreifen wird, für bessere Verhältnisse sorgen wird. Wir glaubten, wir würden ewig leben. Auch diesen Verlust muss man zunächst verarbeiten. Und dann muss man sich neu ordnen und den Sinn des Lebens für sich völlig neu definieren.

Woran ich heute glaube? Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es einfach nicht abschließend. Das ist auch erstmal nicht wichtig. Im Fokus steht jetzt die Familie. Als Zeuge Jehovas denkst du oft nur daran, dass du das Leben in der „Neuen Welt“ erst wirklich genießen kannst. Daher legt die WTG großen Wert darauf, dass man sehr viel Zeit für die Organisation investiert, um dieses Leben in der „Neuen Welt“, so wird es suggeriert, auch zu erreichen. Uns ist nun klar, dass das wirkliche Leben jetzt stattfindet, und das ist ein unbeschreiblicher Gewinn. Wir versuchen dieses Leben für uns und unsere Kinder so schön wie möglich zu gestalten. Wir wollen jede Sekunde des Lebens gemeinsam genießen. Nichts davon kommt zurück oder kann irgendwohin mitgenommen werden. Und wenn meine Frau und ich einmal nicht mehr da sind, dann lebt das, was wir unseren Kindern mitgegeben haben, durch sie weiter.


Ich muss aber fairerweise sagen, dass ein Leben als Zeuge Jehovas keinesfalls schlecht ist. Wir selbst hatten auch kein schlechtes Leben. Wir haben nicht gelitten, hatten wunderbare Freundschaften, viele liebe Menschen um uns herum gehabt, und auch Kinder können, obwohl sie in vielen Dingen eingeschränkt sind und oft in ihrem Leben Konfrontationen mit Gleichaltrigen ausgesetzt sind, ein glückliches Leben und eine glückliche Kindheit verbringen. Eltern von Zeugen Jehovas wollen auch nur das Beste für ihre Kinder. Und solange das eigene Kind keine Bluttransfusion benötigt, um weiterleben zu können, oder das eigene (getaufte) Kind niemals auf den Gedanken kommt, aus der Organisation auszutreten, oder das eigene Kind heterosexuell ist, solange hat man keine Probleme als ein Zeuge Jehovas.

Wir hätten beinahe den Rest unseres Lebens darin verbracht und hätten auch unsere Kinder darin erzogen. Und ich behaupte, es wäre kein schlechtes Leben gewesen.

Doch die Dinge, die wir erfuhren, ließen uns keine Wahl. Unser Gewissen hat es nicht zugelassen, weiterhin dieser Organisation anzugehören. Ich habe sehr oft in Gedanken durchgespielt, wie ich dieses Leben in der Organisation weiter hätte führen können.
„Einfach Augen zu und durch, dadurch bliebe uns viel erspart“, dachte ich. Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass ich mein Problem und die Konsequenzen, die meine Frau und ich erleiden müssten, nur auf unsere Kinder abwälzen würde. Ich dachte darüber nach, was wäre, wenn meine Kinder später genau in die gleiche Situation kommen würden, in der ich nun bin. Dann hätte ich sie aus rein egoistischen Beweggründen selbst in diese Situation hinein manövriert. Das konnte ich nicht.

Ein sehr besonderer Mensch schrieb einmal:

Der Stimme des Gewissens zu folgen, fällt den meisten wohl nicht schwer, aber eben nur solange, wie es sich um kleinere Dinge handelt. Sobald es um mehr geht und der Preis ansteigt, der für ein gutes Gewissen zu zahlen ist, wird es schon schwerer, Gewissenskonflikte durchzustehen und dann die Konsequenzen zu tragen. Handelt es sich um sehr weitreichende Konsequenzen, so stehen wir vor einer Grundsatzentscheidung.R. V. F.

Wir haben eine Entscheidung getroffen. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Und ich bin davon überzeugt, dass dies eine der besten Entscheidungen meines Lebens war!

Ende